Juli 2021
Es ist Regenzeit… ich sitze auf einer bedeckten Terrasse in einem Dschungel – Dorf in Indien. Ich schaue dem Regen zu und lasse mir die letzten Wochen nochmals durch den Kopf gehen. Der Regen und die Stimmung passen zu den Ereignissen, die sich vor meinem Inneren – Auge zeigen. Als ich den letzten Newsletter geschrieben habe, habe ich geglaubt, dass die Herausforderungen Anfangs letztes Jahr, durch die erste Corona-Welle das Schlimmste war, was wir in dieser Krise erleben mussten. Da habe ich mich jedoch gewaltig getäuscht.
Gleich nachdem der letzte Newsletter bei Euch erschienen ist, wurde die Situation in vielen Grossstädten in Indien rasend schnell zu einem Alptraum. Ich selbst befand mich zu dieser Zeit in einem Dschungel Dorf in Westbengal, welches ebenso eines meiner vielen Zuhause ist. Der Besuch von Ausländern unserer Projektdörfer war damals, und ist auch heute noch, untersagt. Auch nach Nepal zu reisen, macht für mich aktuell keinen Sinn, da nur Ausländer erlaubt sind, welche Bergtouren gebucht haben. Im täglichen, telefonischen Austausch mit meinem Team, plante ich Schritte, wie wir unsere Dörfer in Nepal und Indien schützen können, und ebenso die Menschen vor dem Hungern bewahren zu können. Wir statteten unsere Teams mit den notwendigen Schutzmassnahmen aus, wie zum Beispiel Ganzkörperanzüge für unser Ambulanz-Team und ebenso diejenigen, die im Notfall auch Corona-Erkrankte besuchen mussten. Mit dem Anstieg der Zahlen der Coronainfizierten, der langsamen Verbreitung des Virus in den Dörfern selbst und den beängstigenden Nachrichten von bekannten oder sogar geliebten Menschen die am Virus starben, wurden auch meine Teammitglieder zunehmend von der Angst gepackt. Dieses Mal war die Gefahr sehr real. Die Meetings wurden zu Kriseninterventionen in welchen auch die Teammitglieder selbst gestützt und gestärkt werden mussten. Wir planten ausserordentliche Auszeiten für Teammitglieder, die erschöpft waren oder selbst erkrankten. Es schien keinen Menschen zu geben, der nicht in seinem Umfeld einen Menschen verlor. Da die medizinische Versorgung in Indien schon in «normalen» Zeiten für die vielen Menschen nicht ausreicht und qualitativ in manchen Gebieten unbeschreiblich schlecht ist, wandelte sich diese Tatsache in ein katastrophales Ausmass.
Die Realität machte auch vor der Familie meines Mannes nicht halt. Seine Eltern erkrankten beide sehr schwer am Virus und wir mussten zu ihnen in die Stadt, um sie ins Krankenhaus zu bringen. Da wurde uns das volle Ausmass der Katastrophe direkt vor Augen geführt. Zwar haben wir nach einigen Stunden zwei Spitalbetten und auch Sauerstoff organisieren können, doch nur weil die Eltern meines Mannes auch das Geld zur Verfügung hatten. Mir wurde schmerzlich bewusst, dass in der aktuellen Lage Menschen mit wenig oder keinem Geld auch keine Behandlung erhalten werden. Die staatlichen, kostenlosen Spitäler, meist mit sehr schlechter Behandlung, waren überfüllt und die Behandlung in den Privatspitäler kosteten ein Vermögen. Die Regierung tauchte in der schlimmsten Zeit unter und niemand übernahm für das Chaos die Verantwortung. Viele Hilfsorganisationen, viele meiner Freunde und Bekannte leisteten jedoch unglaubliches. Menschen wurden auf verschiedene Weise unterstützt, wie z.B. mit Nahrungsmitteln, Vermittlung von vorhandenen Spitalbetten und Sauerstoff, sowie finanzielle Unterstützung für Behandlungen.
Auch wir wurden aktiv in verschiedenen Bereichen. Unsere Dörfer in Indien waren mit guter Ernte gesegnet, somit war es nicht notwendig, ausserordentliche Hilfe im Bereich Nahrungsmittel zu leisten. Jedoch mussten wir in unserem Dorf in Nepal Nahrungsmittel verteilen, wie auch in Indien wurden wir in einem anderen Gebiet auf diese Weise aktiv. Erfolgreich führten wir Aufklärungsprogramme durch, um die Verbreitung des Virus zu verhindern. In den Dörfern war die Verbreitung nicht so massiv wie in den Städten. In unseren Projektdörfern ist niemand am Virus verstorben.
Auch haben wir Menschen aus mittellosen Familien ausserhalb unserer Projektdörfer begleitet und finanziell unterstützt, um in einem Spital behandelt zu werden. Durch den Mangel an Betten stieg der Preis von Behandlungen massiv. Zwei der Menschen, die wir unterstützten, verstarben im Krankenhaus. Ebenso mussten wir uns mit der traurigen Nachricht auseinandersetzen, dass der Vater meines Mannes die schwere Erkrankung nicht überlebt hatte. Meine Schwiegermutter jedoch hatte das Schlimmste hinter sich gebracht.
Auch habe ich mich immer mal wieder bei Freunden erkundigt, wie es ihnen geht, um Unterstützung zu bieten, falls notwendig. Als es dann langsam etwas ruhiger wurde, habe ich mich auf die Suche nach meinen ehemaligen Studenten/innen gemacht. 2013 bis 2014 habe ich in einem College in Odisha in Indien 75 Studenten in Gewaltfreier Kommunikation unterrichtet. Ich habe damals mit den Studenten zusammengewohnt und dies hat uns nähergebracht. Mit einzelnen Studenten hatte ich bis heute Kontakt. Die meisten der Studenten konnte ich ausfindig machen und mich erkundigen wie es ihnen geht. Ich habe sie gebeten mich zu kontaktieren, falls sie sich aktuell in einer schweren Situation befinden. Denn diese Krise hat viele Familien in eine sehr schwierige Lage gebracht. Einige haben sich bei mir gemeldet, für emotionale oder finanzielle Unterstützung. Immer wieder melden sich weitere Studenten. Wir tauschen uns aus und suchen gemeinsam nach einer geeigneten Lösung. Einer der Studenten zum Beispiel konnte seine kranke Mutter nicht ins Spital bringen, da durch den Lockdown kein Bus oder Zug fährt und eine Mitfahrgelegenheit mit einem der Fahrzeuge die eine Bewilligung haben, kostet sehr viel Geld. Der junge Mann hat vor einigen Jahren schon seinen Vater verloren und als Ältester der Familie hatte er nun die volle Verantwortung für seine kranke Mutter. Die finanzielle Unterstützung hat er von uns erhalten und seine Mutter wird nun in einem qualitativ guten Krankenhaus behandelt.
Beim Schreiben völlig versunken in die vergangenen Geschehnisse, kehre ich nun wieder in die Realität zurück ins Dschungel – Dorf. Der Regen hat aufgehört und die Sonne drückt langsam durch die Wolken.
Die Zahlen der erkrankten Menschen in Indien sind mit den Wochen von 430´000 pro Tag auf 43´000 pro Tag zurückgegangen. Die Menschen hier haben die grosse Stärke sich nach Krisen schnell wieder zu erholen. Das Leben ist zurückgekehrt, die vergangene Angst ist nicht vergessen, beherrscht jedoch nicht mehr den Alltag.
Natürlich brauchen die durch die Geschehnisse verursachten Wunden weiterhin Pflege, jedoch nimmt die Lebensfreude wieder einen grossen Platz im Alltag ein.
Auch hat sich in unseren Teams wieder neue Motivation und Freude an der Arbeit ausgebreitet. Das Planen und Durchführen von Projekten fühlt sich wieder leichter und energievoller an.
Es ist unbeschreiblich, was unsere Teams leisten, auch wenn sie immer und immer wieder sehr schwierigen Situationen ausgesetzt sind. Jeder Einzelne unserer Mitarbeiter/innen unterstützt die Menschen direkt vor Ort, da wo es am nötigsten ist.
Einen dankbaren Gruss aus Indien
Andrea