Juli 2024

In einigen Tagen werde ich im Flieger sitzen, um zwei Monate in der Schweiz zu verbringen. Meine Gedanken sind aktuell jedoch ganz wo anders. Die Aufbruchstimmung wurde abrupt unterbrochen und haben mich ins hier und jetzt gebracht, also nach Nepal und Indien zu unseren Projektdörfern…

Ich sitze in einem unserer Projektdörfer in einer Hütte und denke über die letzten Tage nach. Sie waren schmerzhaft sowie intensiv und gleichzeitig konnten wir Dinge erreichen, die ich nicht für möglich gehalten hätte.

Dies ist unser Alltag, für mich meist noch intensiver als für meine Mitarbeitende, da sie sich dieses Leben gewohnt sind. Jedes Mal, wenn ich ins Dorf gehe, bricht mir immer wieder ein Schicksal das Herz und andere lassen mein Herz erblühen. Dieser Ausgleich ist sicherlich auch einer der Gründe, warum ich auch nach elf Jahren noch hier bin, warum ich mir auch nach elf Jahren nicht vorstellen könnte in meinem Leben was anderes zu tun, als mich für Menschen in Indien und Nepal einzusetzen. Für Menschen die scheinbar von der Gesellschaft vergessen oder auch von der Gesellschaft ausgegrenzt werden.

Anusa, die Mutter dreier Mädchen

Vor einigen Tagen war ich in Nepal. Die Freude und Motivation waren gross, mich mit dem Team zusammenzusetzen und die nächsten Monate zu planen. Das Team hier vor Ort ist sehr selbständig. Viele Dinge können wir über Zoom und Telefon besprechen. Persönliche Sitzungen und Gespräche sind jedoch ebenso enorm wichtig. Auch stand das Team vor einer grossen Herausforderung und wussten nicht wie weiter. Eine Mutter von drei Kindern, erlitt einen Hirnschlag. Sie wurde sofort ins Krankenhaus eingewiesen und operiert. Ein Teil des Hirns musste entfernt werden. Nach einer Woche wurde die Frau nach Hause geschickt, um zu sterben. Bei ihr Zuhause, eine einfache Lehmhütte, der Mann täglich betrunken und die kleinste Tochter erst fünf Jahre alt, war die Familie mit der Pflege total überfordert.

Als ich die Hütte betrat erkannte mich die Mutter, ihr Name ist Anusa, sofort. Mit einer verwaschenen leisen Sprache sagte sie meinen Namen. Auch meine Mitarbeiterinnen erkannte sie nur von der Stimme her. Anusa lag auf einer Pritsche, ihr Gesicht der Wand zugekehrt. Ihren Oberkörper konnte sie leicht bewegen, Hüfte und Beine jedoch nicht. Sie war bei vollem Bewusstsein und ganz und gar nicht dem Sterben nahe. Ich untersuchte ihren Körper. Erst sah ich einige kleine offenen Wunden. Dann drehte ich Anusa auf die Seite. Bevor ich überhaupt sah was vor mir war, hörte ich meine Mitarbeiterinnen aufschreien. Am Gesäss war ein grosses schwarzes Loch. Vom langen Liegen wurde die Mutter wund. Diese Wunde musste schnellstens operiert werden.

Ich konnte mir kaum vorstellen, welche Schmerzen Anusa erleiden musste. Sie sagte sofort zu, als ich den Vorschlag machte, dass wir eine Rehabilitationsklinik suchen, wo sie operiert und gut betreut werden kann. Auch die Kinder waren sichtlich erleichtert als sie hörten, dass ihre Mama in ein Krankenhaus geht. Die 13-jährige Tochter sagte: «Meine Mama tut mir so leid, ich bin froh, wenn sie in ein Krankenhaus darf, wo sie gut betreut wird».

Anusa

Schon zwei Tage darauf, war Anusa in einer Rehabilitationsklinik. Niemals hätte ich gedacht, dass wir so schnell eine richtig gute Klinik für Menschen die einen Hirnschlag erlitten haben, ausfindig machen können, in welchem Anusa gut betreut wird.

Durch die kompetente Versorgung konnte Anusa gute Fortschritte machen. Sie spricht viel klarer und kann aufrecht sitzen und somit auch besser Essen. Die Mutter braucht noch viel Geduld und Kraft, um sich soweit erholen zu können, dass sie wieder nach Hause zu ihren Kindern kann. Jedoch ist sie auf einem guten Weg und wir werden sie dabei weiterhin unterstützen. Ihre Kinder sind mittlerweile in einem Internat, mit dem wir eng zusammenarbeiten, in welchem auch einige ihrer Freunde bereits sind. Da werden sie gut betreut und bekommen all die Unterstützung die sie brauchen. Den Klinikaufenthalt und auch das Internat wird von Hope is life finanziert.

 

Simadri hinterlässt drei Kinder

Währenddessen wir uns um Anusa kümmerten, erhielt ich einen Anruf von unserem Team in Indien. Was sie erzählten, erschütterte mich zutiefst. Simadri, einer unserer Mitarbeiter verstarb vor einigen Stunden aufgrund einer Hirntuberkulose (Du hast nicht gewusst, dass es sowas gibt? Ich auch nicht. Erst als Simadri daran erkrankte).

Heutzutage stirbt niemand mehr an einer Tuberkulose. Dies schien mir eine klare Tatsache. Aus diesem Grund war es für uns alle ein riesen Schock. Sofort buchte ich einen Flug und erreichte nach einer 24-Stunden Reise Simadri´s Dorf.

Seine Familie begrüsste mich mit einem Ritual, bei dem alle miteinander weinen und schreien. Seine Frau kam sofort auf mich zu und ich schloss sie in meine Arme. Lange Zeit standen wir einfach da und liessen uns von unseren Gefühlen leiten. In einem langen Gespräch versicherten wir der Mutter der drei Kinder, die Simadri hinterliess, dass wir ihre Familie unterstützen werden. Nicht nur finanziell, sondern ebenso mental. Die ersten zehn Tage bekommt die Familie viel Unterstützung vom Dorf. Mit der Zeit jedoch, wird die Familie der schmerzlichen Tatsache gegenüberstehen, dass in diesen Dörfern Witwen teils verachtet und benachteiligt werden. Wir werden jedoch der Familie beistehen und im Dorf genügend Aufklärungsarbeit machen, so dass Simadri´s Frau im Dorf gut aufgehoben ist.

Simadri´s Familie – als Zeichen des Trauerns werden den Kindern die Haare rasiert

Und zwei weitere Male müssen wir uns verabschieden

Nach emotionalen Gesprächen mit dem Team, um uns von Simadri zu verabschieden, erfuhren wir vom Versterben eines unserer Kinder, die wir seit Jahren begleiten. Mousumi war schwer krank, jedoch lebte sie mit ihren verschiedenen Erkrankungen schon viel länger, als die Ärzte vorhersagten. Aus diesem Grund rechnete niemand mit dieser Nachricht. Sofort fuhr ich in Mousumi´s Zuhause, um auch da mit den Angehörigen zu reden; ihnen Empathie, Mut und Hoffnung zu vermitteln. Die Eltern haben sich all die Jahre rührend um ihre fünfjährige Tochter gekümmert, was in diesen Dörfern nicht selbstverständlich ist. Mädchen und Kinder mit speziellen Bedürfnissen werden oft vernachlässigt. Mousumi jedoch nicht. Das selbstsichere Mädchen hatte ein schönes Leben und auch wenn wir wussten, dass sie bald gehen muss, ist die Trauer gross.

Genug ist genug! Das habe ich gedacht, als ich am nächsten Tag informiert wurde, dass ein weiteres Kind welches wir über viele Jahre betreuten verstarb. Tika wurde 18 Jahre alt. Er litt an der Erkrankung Muskelschwund Duchenne, welche nur Jungs betrifft. Über viele Jahre wurde er von uns begleitet. 2016 durften wir ihn in eine Institution für schwerkranke Kinder bringen, in welcher er bis zu seinem Tod mit seiner Mutter und seiner Schwester lebte. Tika durfte da seine Träume verwirklichen, zum Beispiel trotz seiner Behinderung die Schule zu besuchen und mit den nötigen Hilfsmitteln solange wie möglich mobil zu bleiben. Die Familie von Tika trauert ebenso sehr und wird von uns begleitet.

               

Tika an seinem 18 Geburtstag           unsere kleine tapfere Mousumi

Es war eine sehr intensive Zeit für uns alle. Wir werden die Menschen die wir verloren haben für immer in unseren Herzen tragen.

Diese Schicksalsschläge erinnern uns daran warum wir an diesen Orten arbeiten und weshalb unsere Arbeit so wichtig ist.

Auch in Zukunft werden wir uns für die einsetzen, die es am notwendigsten haben. Danke dir, dass du uns dabei hilfst, mittellose Menschen zu unterstützen.

 

Alles Liebe

Andrea