Juni 2022

Ich sitze unter einem grossen Baum in einem unserer Projektdörfer in Orissa. Es ist später Nachmittag und die Sonne scheint heute für uns keine Gnade zu verspüren. Es ist heiss, ich vermute mal um die 43 Grad und es wird sicherlich noch wärmer, ich komme ganz schön ins Schwitzen.

Vor einigen Tagen kam ich hier im Dorf an. Die Kinder sind mir freudig entgegengerannt und haben voller Freude «Didi, Didi» gerufen, was so viel wie grosse Schwester bedeutet. Auch die Erwachsenen haben mich mit einem Lächeln empfangen. Wir kennen uns nun alle schon so lange, es ist wie ein Nachhause kommen. Die Dorfbewohner nennen mich ihre Tochter und sind stolz darauf.

Zuerst habe ich mir etwas Zeit genommen um anzukommen und dann mit meiner Arbeit losgelegt. Wenn ich vor Ort bin, dann habe ich meist keine oder nur ganz wenig Freizeit. Ich möchte so viel wie möglich Arbeiten und Menschen treffen, die Unterstützung benötigen, so dass wir so vielen Menschen wie möglich helfen können. Meine Unterkunft ist wie immer im Haus einer unserer Mitarbeiter, sein Name ist Drinju. Er engagiert sich enorm für unsere Projekte und möchte, dass es den Menschen um ihn herum gut geht.

Als erstes habe ich den kleinen Suman getroffen, er ist nun schon über 4 Jahre alt, ist jedoch durch das Hungerleiden als Baby noch nicht ganz so weit entwickelt. Als ich ihn gefunden habe, kam er knapp dem Hungertod davon. Ich habe ihn auch schon in einem Newsletter erwähnt. Er wurde in einem staatlichen Spital durch eine Bluttransfusion mit HIV angesteckt. Seine Mutter ist psychisch krank und sein Vater trinkt sehr viel Alkohol. Wir unterstützen seine Mutter bei der Versorgung aller ihrer Kinder. Suman hat zwei ältere Brüder und eine Schwester. Wir kochen für die ganze Familie und schauen, dass die Mutter die Kinder auch sonst gut versorgt. Immer mal wieder haben wir Probleme mit dem Vater. Der Vater hat zwei Frauen und ist dadurch nicht immer bei der Familie, was gut ist. Er kann sehr gewalttätig sein. Er hat vor einigen Monaten Suman´s Mutter geschlagen. Unser Team und das ganze Dorf hat jedoch sehr gut reagiert und den Vater weggeschickt und ihn erst wieder in die Nähe des Hauses gelassen, als er sich beruhigt hat. Im Gespräch mit unserem Team musste er versprechen, dass er in Zukunft keine Gewalt mehr anwenden wird. Ansonsten wird er vom Dorf weggeschickt. Noch vor einigen Jahren hätte diese Art von Gewalt einfach dazugehört. Nun jedoch setzt sich das ganze Dorf dafür ein, dass Frauen in Frieden und ohne Gewalt leben können.

Trotz den Schwierigkeiten in seiner Familie und seiner Vergangenheit, hat sich Suman zu einem sehr fröhlichen Jungen entwickelt. Früher war er sehr, sehr schüchtern und zurückgezogen. Heute jedoch mag er es unter Leuten zu sein und liebt es in den Arm genommen zu werden und ganz viel Liebe zu erhalten. Diese positive Entwicklung haben wir unserem Team im Kids Care zu verdanken und dem medizinischen Team, dass Suman täglich mit den notwendigen Medikamenten versorgt.

der kleine Suman

Mit einem Scooter fahre ich von Dorf zu Dorf, um die Menschen zu treffen, die unsere Unterstützung benötigen. So habe ich auch mehrere Male Sanjaya besucht. Der Junge ist vor einem Jahr beim Mango pflücken von einem Baum gestürzt und seither von der Hüfte abwärts gelähmt. Wir haben den Jungen damals gleich nachdem sich die Eltern bei uns gemeldet haben ins Krankenhaus gebracht. Jedoch war keine Operation möglich um seine Gehfähigkeit wieder zu erlangen. Obwohl unser Team sich immer wieder darum bemüht hat, haben die Eltern sich nicht um den Jungen gekümmert. Somit hat er zwei Mal eine tiefe offene Wunde durch Druckstellen erhalten. Diese mussten Operiert werden. Die Eltern verweigerten mit Sanjaya in eine notwendige Rehabilitationsklinik zu gehen. Mehrheitlich der Vater beschimpfte den Jungen, er sei nichts mehr wert und er werde ihn entsorgen, in den Fluss werfen. Dieses Verhalten von Eltern habe ich in meinen Newslettern schon ein paar Mal erwähnt. Behinderte Kinder sind nichts mehr Wert, auch wenn sie geistig völlig gesund sind. Jedoch Sanjaya´s Vater hat alles was ich bis anhin erlebt habe übertroffen. Die psychischen Verletzungen die er durch seine Worte dem Jugendlichen zufügte werden sicherlich sehr tief sein. Es hat mir sehr weh getan, denn Jungen so zu sehen. Ohne Unterstützung in einem dunklen Raum zu liegen und sich nicht bewegen zu können. Die Ratten hatten tiefe Löcher in seine Füsse gefressen und da Sanjaya die Bisse nicht spürte, konnte er sich auch nicht dagegen wehren.

Sanjaya

Tagelang, immer und immer wieder haben wir versucht die Eltern von der Wichtigkeit einer Rehabilitation zu überzeugen. Einige Male war der Krankenwagen schon startbereit und die Familie hat wieder abgesagt. Dann hat Sanjaya´s Vater wieder einmal eingewilligt, jedoch wusste ich, dass er wieder absagen wird. Aus diesem Grund habe ich dem Vater mitgeteilt, dass wir Sanjaya früh morgens abholen werden. Dem Team habe ich gesagt, sie sollen in der Nacht keine Anrufe des Vaters entgegennehmen. Der Vater hat dann auch mehrere Male versucht, jemandem von Team zu erreichen, da er wieder absagen wollte. Als wir dann früh morgens um 3 Uhr mit der Ambulanz in sein Dorf kamen, konnte er nicht mehr absagen. Die anderen Dorfbewohner hätten nicht verstanden, wie er die Hilfe ablehnen kann, wenn die Ambulanz schon vor Ort ist, er hätte den Respekt der anderen Dorfbewohner verloren und das wollte er nicht. Sanjaya ist nun schon seit zwei Wochen in der Rehabilitationsklinik und macht gute Fortschritte. Zwar hat er jedoch noch einen langen Weg vor sich, doch darf er nun in einer Umgebung sein, in welcher sich die Menschen um ihn sorgen und sich so ein Leben aufbauen, wo er sich wieder selbständig bewegen und zurechtfinden kann. Nach erneuten Operationen aufgrund von neuen Wunden, wird er sein Aufbautraining beginnen. Er wird nach Einschätzung der Ärzte 4-6 Monate in der Klinik verbringen müssen. Danach werden wir Sanjaya unterstützen um eine externe Ausbildung machen zu können, ausserhalb von seinem Zuhause. So dass der Jugendliche in einigen Jahren selbständig leben kann und nicht auf die Unterstützung seiner Eltern angewiesen ist. Ich hoffe fest, dass sich Sanjaya ebenso den seelischen Wunden stellen kann und den Unfall, sowie den psychischen Missbrauch der Eltern verarbeiten kann. Wir werden ihn auf jeden Fall auf seinem Weg unterstützen, wo immer möglich.

Sanjaya ist nur einer der vielen Kinder und Jugendlichen die in unseren Projektdörfern und der Region Unterstützung benötigen. Diese Tage werde ich weitere Kinder besuchen und mit dem Team zusammen bestmögliche Lösungen für die individuellen Problematiken suchen und diese Umzusetzen. Dafür brauchen wir soviel Unterstützung wie möglich und freuen uns, wenn wir auf Deine Hilfe zählen können.

Alles Liebe aus dem heissen Orissa

Andrea