Mai 2014
Ich bin von meinem Abenteuer in den Dörfern zurück, sitze in Berhampur im Büro der Hilfsorganisation SFDC und freue mich, Zeit zu haben, um an die Erlebnisse vor Ort zurück zu denken. Nach dem Workshop für die Mitarbeiter des Frauenprojektes, durfte ich nun das vermittelte Tool, mit den Mitarbeitern zusammen in den Dörfern integrieren. Dafür hatte ich nicht viel Zeit und wie ich dann vor Ort herausfand…die Dorfbewohner auch nicht…
…Ich freute mich riesig auf die Herausforderung, freute mich die mir bekannten Dörfer wieder zu besuchen und ebenso die Reise dahin, geniesse ich jedes Mal. Auch wenn die Lebensweise noch einfacher und der Alltag sich schwieriger gestaltet als im College, haben die Dörfer und die Landschaft in diese sie eingebettet sind, eine besondere Anziehungskraft für mich. In diesen Tagen in denen ich da hausen und arbeiten durfte, konnte ich viele eindrückliche, traurige, wie auch schöne Erlebnisse mitnehmen. Wieder könnte ich ein ganzes Buch darüber schreiben, dafür würde ich den Titel wählen:“ Herzblut: das Ziel vor Augen, kein Ende in Sicht“. Nun möchte ich mich jedoch auf zwei ganz besondere Erlebnisse konzentrieren und versuchen, sie in der Intensität zu vermitteln wie ich sie erlebt habe.
In der Morgendämmerung fuhren wir mit dem Motorrad, der Projektkoordinator Ashish, der mich auf meiner Reise in die Dörfer begleitete, und ich, in eines der Dörfer das in das Frauenprojekt integriert wurde.
Von weitem sah ich die Frauen, die auf uns warteten und unser Ankommen genau beobachteten. Freundlich wurden wir begrüsst. Ashish ist allen wohl bekannt und ich kann mich immer wieder davon überzeugen, dass sie ihn sehr mögen und schätzen. Schon in den Dörfern zuvor, durfte ich lernen, dass die Dorfbewohner sich sehr für das Tool zur Unterstützung der Gewaltlosigkeit interessieren, es ihnen jedoch nicht möglich ist, länger als 2-3 Stunden dabei zubleiben. Der eine Grund ist, dass die Frauen täglich viel Arbeit verrichten müssen und diese nicht einfach vernachlässigen können und der andere Grund, fast alle Frauen sind nicht gebildet und kennen diese Form, etwas zu erlernen, nicht. Sie können sich nur für eine kurze Zeit konzentrieren. Dass ein weiterer Punkt die Konzentration erschwert, wurde mir erst in diesem Dorf schmerzhaft bewusst.
Die Frauen in diesem Dorf waren sehr aufgeschlossen und daran interessiert, etwas an ihrem gewaltvollen Alltag zu ändern. Das letzte Mal wurde ich oft damit konfrontiert, dass die Bewohner Geld von mir wollten, statt etwas zu lernen. Dass dieses Mal bei allen Besuchen niemand nach Geld fragte beeindruckte mich sehr. Durch dieses Verhalten wurde mir auch bewusst, dass die Bewohner ein echtes Interesse haben, an dem was ich vermittle.
Ich startete mit meinen Uria-Künsten und schrieb meinen Namen in der einheimischen Schrift auf die Wandtafel die mir zur Verfügung stand. Mit dieser Geste ist mir die Aufmerksamkeit der Teilnehmer sicher. Ich stellte mich kurz vor und startete sofort mit der Einführung des Tools, da ich gelernt habe, dass meine Zeit begrenzt ist. Die Mitarbeiterin, die in diesem Dorf für das Frauenprojekt ausgewählt wurde, war am Workshop etwas schüchtern und zurückhaltend. Als wir jedoch mit der Praxis des Tools starteten, hätte ich vor Freude weinen können. Sie führte die Übung mit den Bewohnern mit einer solchen Hingabe und einer Selbstverständlichkeit durch, wie ich niemals erwartet hätte. Ich war so berührt, dass ich ihr im Nachhinein einfach nur noch für ihre Motivation und ihr Engagement danken konnte. Die ganze Gruppe war motiviert und interessiert, das Tool zu nutzen um in ihrem Dorf eine Veränderung erzielen zu können.
Bewegt und beeindruckt wollte ich mich verabschieden, nachdem ich einen neuen Zeitpunkt mit ihnen vereinbarte, wann ich wieder kommen werde. Doch dann vernahm ich eine leise Frauenstimme die sprach und Ashish übersetzte für mich in Englisch um was die Frau ihn bat. Erneut kommen mir die Tränen, wenn ich daran denke…die Frau fragte, ob es mir möglich sei, wenn ich das nächste Mal komme, etwas Essen mitzubringen, so dass sie sich alle besser konzentrieren können. Auf einmal war mir bewusst, dass die Menschen hier Hunger leiden. Ich wusste es wohl schon vorher, die Fehlernährung, der Mangel an Essen… aber so bewusst wie zu diesem Zeitpunkt war mir das vorher noch nie. Ich war und bin weiterhin tief bewegt zu wissen, dass die ganze Gruppe mir zwei Stunden lang konzentriert zuhörte, sich mit vollem Herzen bei der Übung beteiligten und das mit hungerndem Magen. Die meisten Bewohner können sich ihren Magen mit Reis füllen, was den Hunger etwas stillt, jedoch durch den Mangel an zusätzlicher Nahrung nicht wirklich sättigt. Bewusst dass ich diese Situation aktuell in diesem Dorf und auch in den folgenden Dörfern nicht ändern kann, gab ich ihnen mein Wort, dem einfachen Wunsch nachzukommen und ihnen das nächste Mal eine reichhaltige Mahlzeit mitzubringen.
An einem Nachmittag, als ich von meiner Arbeit aus den Dörfern zurückkam, teilte man mir mit, dass eine Mitarbeiterin, die für das Frauenprojekt arbeitet, von ihrem Mann immer wieder massiv geschlagen werde. Ich informierte sofort Ashish darüber, dass ich noch am selben Abend zu dieser Mitarbeiterin hinfahren möchte. Ich war überrascht, denner willigte sofort ein, obwohl es mir nicht gestattet war, mich abends draussen aufzuhalten. Den ganzen Nachmittag war ich mit meinen Gedanken bei dieser jungen Frau. Ich lernte sie am Einführungs-Workshop für die Mitarbeiter des Frauenprojektes kennen. Sie kam mit ihrem kleinen süssen Sohn, der mich während dem ganzen Workshop immer wieder zum Lachen brachte. Obwohl die Mutter erst 19 Jahre alt ist, wirkte sie selbstsicher, sie hatte ein herzliches und strahlendes Lachen, dass ansteckend war. Die beiden sind mir von Anfang an richtig ans Herz gewachsen. Ich ertrug den Gedanken fast nicht, dass dieses fröhliche Duo solch massiver Gewalt ausgesetzt ist. Ich stellte mir ihren Mann als ein richtiger Schlägertyp vor. Alle Geschichten die ich hörte, von Misshandlungen an Frauen waren in diesem Moment präsent, so dass ich diesen Mann nur noch als ein Monster sehen konnte. Am Abend fuhren wir mit dem Motorrad in das Dorf. Ich nutzte die Zeit auf dem Motorrad meine Gedanken in eine andere Richtung zu lenken, um mein Urteil gegenüber dem Mann zu verringern. Ich wusste, dass ich keine Chance haben würde, wenn ich ihn von Anfang an verurteile und ihm gegenüber kein Verständnis aufbringen konnte.
Die junge Frau empfing uns im Zuhause ihres Mannes. Ihr Mann war nicht da. Sie erzählte kurz, was vor zwei Tagen passiert war, eine Auseinandersetzung die mit Gewalt endete. Wie massiv die Gewalt war, konnte ich durch ihre Erzählungen nicht wirklich einschätzen. Sie weinte, wirkte frustriert und traurig.
Beim grossen Mangobaum sei ihr Mann zu finden. So wurden wir von den Nachbarn über den Aufenthaltsort des Mannes der jungen Frau informiert. Zum Glück wusste Ashish sofort wo das war. Ich hätte mit dieser Beschreibung nichts anfangen können (-:
Ich war etwas nervös, hatte ich mich da auf etwas eingelassen, das eine Nummer zu gross für mich war? Die Gewaltbereitschaft dieser Männer war nicht zu unterschätzen.
Und da kam er…ein junger, aufgestellter, sympathischer Mann mit einem warmen und herzlichen Lachen rannte auf uns zu. Verwirrt frage ich meinen Begleiter:“ Ist das der Mann?“…er…er war kein Monster. Der monsterlose junge Mann wirkte mit seinen 23 Jahren sehr jungenhaft. Er war sofort bereit über die Vorkommnisse zu sprechen. Unverblümt gab er seine Sicht der Geschichte preis. Verwundert über seine Offenheit, lauschte ich seinen Erzählungen. Es war für mich nicht schwierig ihm gegenüber empathisch zu sein. Denn vor mir war ein Junge, der seine Verzweiflung ausdrückte und mit Tränen in den Augen nach Verständnis bat. Er war überfordert mit seiner Rolle als Vater und als Mann. Die Schläge sind nicht zu beschönigen, die Tatsache dass in den Dörfern der Glaube herrscht, dass die Frauen gehorchen müssen und ansonsten geschlagen werden, möchte ich auch hier auf keinen Fall umgehen. Ich sprach mit dem Mann über die Gewalt, die Sinnlosigkeit und der weiterführende Frust der dahintersteckt. Der Junge verstand meine Ansicht und war sofort bereit, mit seiner Frau zusammen ein klärendes Gespräch zu führen.
Schon in den ersten Minuten des Gespräches war mir klar, dass sich beide mehr Verständnis in ihrer Beziehung wünschten. Der harte Alltag, in welchem beide ums Überleben kämpfen, mit einem kleinen Kind, das Führsorge benötigt und beide in einem sehr jungen Alter. Vor mir waren zwei Teenager mit einem süssen Kind und sie selbst voller Frustration und Trauer. Sie konnten sich gegenseitig nicht ansehen, waren überfordert miteinander zu reden. Jedoch überraschten Sie mich als beide mir mitteilten, dass sie sich von Herzen lieben. Erst jetzt wurde mir klar, dass die Beiden eine der seltenen Liebes-Hochzeiten haben, was oft für die Liebenden Probleme in der Gesellschaft bedeutet, da in diesen Gebieten die arrangierte Heirat gelebt wird. Ich sass mit dieser jungen, verzweifelten und ebenso warmherzigen Familie auf dem Boden eines der wohl ärmsten Dörfer Indiens, in einer so anderen Welt und plötzlich war mir klar, dass diese beiden in ihrer Beziehung mit denselben Problemen konfrontiert sind, wie wir alle in der Schweiz ebenso. Egal wie schwer ihr Leben ist, egal wie hart sie arbeiten müssen, egal ob sie Hunger leiden oder nicht, sie wünschen sich gegenseitiges Verständnis. Ich war enorm berührt über diese Einsicht.
Ich war erleichtert, als mir im Gespräch bewusst wurde, dass die Gewaltvorkommnisse nicht in diesem Ausmass waren, wie mir im Vorherein erzählt wurde. Es war eine konkrete Situation über die alle redeten und nicht über tägliches Schlagen und Misshandlungen, trotzdem möchte ich die Schläge nicht beschönigen. Gemeinsam suchten wir nach Strategien, wie sie sich einander wieder näher kommen und Situationen der Gewalt in Zukunft vorbeugen können. Am Ende des Gespräches sahen sich beide in die Augen und gaben sich liebevoll die Hand. Soviel Ausdruck der Liebe von Mann und Frau, habe ich noch nie erlebt in einem der Dörfer. Für mich war klar, es war die richtige Entscheidung, die junge Mutter in das Frauen-Projekt einzubeziehen.
Unser Schulprojekt ist weiterhin in der Entwicklungsphase. In langsamen Schritten erreichen wir kleine Ziele. Das Projekt haben wir nun auf unserer Homepage publiziert. Ich übe mich in Geduld und Gelassenheit, im vollen Vertrauen, dass in ca. 2 Jahren viele, lachende, kleine Kinder in unserer Schule ein und ausgehen.
Mit diesen Worten möchte ich mich bei Euch verabschieden und freue mich jetzt schon darauf, Euch an meinen nächsten Erfahrungen, Herausforderungen, Freuden und ebenso Traurigem teilhaben zu lassen.
Herzlichen Dank für Dein Interesse
Andrea