November 2022
Dieses Mal hat es mich in einen anderen Kanton von Indien verschlagen. Ich bin in einer etwas noch chaotischeren Stadt als ich es mir sowieso schon von Indien gewohnt bin. Ich bin in Vellore. Diese Stadt liegt in Tamil Nadu, 138 Kilometer von Chennai im Landesinneren. In Vellore befindet sich einer der bekanntesten Spitäler von Indien. Und genau da, befinde ich mich. Ich sitze etwas abseits im Krankenhausareal und beobachte das Treiben. Was ich hier sehe übertrifft alle Vorstellungen. Ein Strom von Menschen versucht ins Gebäude zu gelangen. Vor dem Eingang stehen Sicherheitsbeamte die Terminbestätigungen und Besucherkarten überprüfen, ansonsten bekommt man keine Eintrittserlaubnis. Wenn man es dann doch geschafft hat, ins Gebäude reinzukommen, muss erst lange gewartet werden. Der erste Termin muss schon im Voraus an der Kasse bezahlt werden, bei welcher schon etwa 30-40 Menschen in der Schlange stehen. Wenn der Termin dann bezahlt ist, wird man in einen anderen Raum verwiesen und da trifft man nochmals auf 60-80 Menschen, die auf ihren Termin warten. Wenn es gut geht, kommst Du dann nach 3-4 Stunden warten an die Reihe.
Genau so ging es uns, als wir mit Nilabati, 14 Jahre alt, im Krankenhaus in Vellore ankamen. Nilabati stammt von einem unserer Projektdörfer und besucht täglich unser Kids Care. Vor drei Jahren begann ihr Leidensweg. Sie spürte Schmerzen in der Blasen- und Nierengegend und konnte ihren Urin nicht mehr halten. Ihre Eltern wollten mit ihr ins nächstliegende Krankenhaus, 18 Kilometer, und erhielten da, für Nilabati, Antibiotika zur Behandlung. Das Antibiotikum wirkte jedoch nicht. Nochmals wurde dasselbe Krankenaus aufgesucht, welches weitere Medikamente verschrieb. Die Diagnose war eine einfache Blasenentzündung, weshalb ich dachte, Nilabati ist am richtigen Ort. Das Krankenhaus hat keinen guten Ruf, jedoch übliche Krankheiten wie Malaria, Magendarmgrippe, Dengue-Fieber, wie auch Blasenentzündungen usw. konnten sie meist erfolgreich behandeln. Nun was wir alle nicht wussten ist, dass die Ärzte des Krankenhauses uns verschwiegen, dass sie keine Ahnung hatten was Nilabati fehlt. Zu diesem Zeitpunkt hätten die Ärzte uns benachrichtigen und das Mädchen in ein anderes Krankenhaus überweisen sollen. Als wir hinter diese Tatsache kamen, brachten wir Nilabati sofort in ein kompetenteres Krankenhaus 250 Kilometer von unseren Projektdörfern entfernt. Da wurde mit uns glücklicherweise Klartext geredet. Nach nur einem Tag wurde uns mitgeteilt, dass der Teenager schwer krank sei und wir nach Vellore in ein spezialisiertes Krankenhaus gehen sollten. Dieses Krankenhaus liegt 1130 Kilometer entfernt. Gesagt getan, reisten wir mit Nilabatis Eltern dahin. Im Krankenhaus in Vellore wurde dann festgestellt, dass Nilabatis rechte Niere nicht mehr funktioniert und sich eine grosse Zyste in der Niere befindet. Die zweite Niere war mit Narben von Entzündungen übersäht und funktionierte nur noch zu 40 Prozent. Es gab für Nilabati nur eine Möglichkeit um zu überleben. Eine Operation bei welcher die Blase künstlich vergrössert wird und dann durch einen Schlauch, also ein Stoma im Bauch der Urin ablaufen kann. Als Nilabatis Mutter vom zuständigen Arzt darüber informiert wurde, nahm sie Nilabati an der Hand und verliess das Krankenhaus. Noch am selben Tag bestieg sie den Zug und reiste mit ihrer Tochter zurück in unser Projektdorf. Nilabatis Mutter hatte nie eine Schule besucht. Sie konnte sich nicht im Geringsten vorstellen, wie der Arzt diese Operation bewerkstelligen wollte. Ein Schlauch durch den Bauch…lieber sollte ihre Tochter sterben, als einen Schlauch im Bauch zu haben. Zum einen waren es grosse Ängste welche die Mutter hatte, zum anderen kulturelle Richtlinien und Überzeugungen. Zum Beispiel muss eine Tochter unbedingt verheiratet werden. Ansonsten verlieren die Eltern den Respekt und das Ansehen im Dorf. Man wird ihnen nachsagen, dass sie ein schlechtes Karma besitzen oder die Tochter von bösen Geistern besessen ist. Vor all diesen Stimmen hatte Nilabatis Mutter eine grosse Angst. Sie wusste nicht, wie sie und ihre weiteren fünf Kinder im Dorf leben sollten, wenn sie keinen Respekt und Anerkennung bekam. Dass unser Dorf die Operation jedoch unterstützte, konnte sie nicht wahrnehmen. Sie teilte uns mit, dass Nilabati besser sterben sollte, als mit einem Schlauch geächtet und verflucht durchs Leben gehen muss. Ein ganzes Jahr haben wir versucht die Frau davon zu überzeugen, dass es keine Schande sei, mit einem künstlichen Urin – Ausgang zu leben. Ein Jahr, wieder und wieder. Unser Team wurde von der Mutter bedroht, beschimpft und belächelt. Jedoch konnten wir nicht aufgeben, denn Nilabatis Leben stand auf dem Spiel. Wir versuchten die Behörden einzuschalten, bekamen da jedoch keine Unterstützung. Wenn die Eltern des Kindes noch leben, ist es deren Entscheid eine Operation gut zu heissen oder nicht. Dann jedoch vor einigen Wochen, hat Nilabatis Mutter schweren Herzens zugesagt. Sie selbst wollte jedoch nicht mit dabei sein und so kam die sehr führsorgliche 23-jährige Schwester von Nilabati, welche Nikita heisst, mit ins Krankenhaus.
Nilabati und ich warten im Hotel auf den Operationstermin Chaos ausserhalb des Krankenhauses
Und da befinde ich mich nun. Obwohl uns der Arzt bei der Voranmeldung versichert hat, dass wir kommen können, mussten wir drei Wochen in einem Hotel vor dem Krankenhaus warten, bis wir dann zum Spitaleintritt aufgerufen wurden. Um das Krankenhaus herum, befinden sich 100te von Loges, welche sehr günstig, sehr spartanisch ausgestattet und schmutzig sind. Die Zimmer werden hier meist von ganzen Familien besetzt, es wird im Zimmer gekocht, gegessen und geschlafen. Da das Krankenhaus völlig ausgelastet ist, wird mit mehreren Tagen oder Wochen Wartezeit gerechnet. Manchmal werden die Patienten über Wochen ambulant behandelt, wenn keine Betten frei sind. Also der Patient lebt mit der Familie im Hotelzimmer und geht ins Krankenhaus zur Behandlung. Ein riesen Chaos um das Krankenhaus, welches man sich nicht vorstellen kann, wenn man es nicht selbst erlebt hat. Auf den Strassen muss man sich wie an der Streetparade in Zürich oder am Albanifest in Winterthur durchkämpfen, um an den gewünschten Ort zu gelangen. Viele kranke Menschen sind anzutreffen, da sich das Krankenhaus ja irgendwie auch auf die Hotels ausgeweitet hat.
Nun, wie schon gesagt, durfte Nilabati nach drei Wochen ins Spital eintreten. Die junge Frau war sehr erleichtert. Das ungewisse Warten war für sie sehr schwierig, da sie mit ihren 14 Jahren, und sehr abgelegen gelebt hat, nicht vorstellen konnte, was auf sie zukam. Vor der Operation die zwei Tage nach dem Eintritt und nach zwei Tagen Nahrungsentzug stattfand, war sie natürlich sehr nervös. Ihre Schwester und ich haben am Tag der Operation Blut und Wasser geschwitzt. Unsere Gedanken überschlugen sich, das lange Warten nagte an unseren Nerven. Ausserhalb des Operationsaals gab es einen Raum, in dem 80-90 Menschen auf Informationen über die Operation des geliebten Menschen oder die Geburt eines neuen Familienmitgliedes warteten. Wir durften den Saal nicht verlassen, da es jederzeit sein konnte, dass wir gerufen wurden. Sei es, weil die Operation gelungen und fertig war, oder eine Komplikation aufgetreten ist. Nach neun Stunden warten überkamen uns Zweifel. Der Arzt sagte was von sechs Stunden. Gedanken wie: «Gab es Komplikationen und sie versuchen sie irgendwie am Leben zu erhalten und haben deshalb keine Zeit uns zu informieren? Werden die Angehörigen von misslungenen Operationen erst am Ende des Tages informiert, ist das vielleicht so üblich hier? Oder dauert die Operation einfach solange?» Als wir es nicht mehr aushalten konnten, rannte ich auf die Abteilung, auf welcher ich einen mir bekannten Arzt antraf und mit schwerem Atmen fragte ich was los sei. Der Arzt informierte mich ruhig, dass die Operation sehr gut verlief. Dass es schwieriger war als gedacht und die Narkose sehr lange aufrechterhalten werden musste, so dass Nilabati nun einige Zeit brauche, um aufzuwachen. Dies sei jedoch alles normal. Der grosse Stein der auf meiner Brust lag, viel zu Boden und ich wurde um einige Kilos leichter. Ich war so dankbar, dass unsere Sorgen und schweren Gedanken nicht wahr wurden. Danke, danke, danke.
Nilabati und ihre Schwester vor der Operation Nilabati nach der Operation
Nach 11 Stunden durften wir die noch sehr schwache und schläfrige Nilabati auf die Abteilung nehmen. Ja, die Angehörigen nehmen den Patienten selbst mit auf die Abteilung. Erst war der Anblick herzzerreissend, mit all den Schläuchen und Infusionen welche Nilabati umgaben. Auch ihr erschöpfter und kraftloser Zustand war nicht schön anzusehen. Nach einigen Tagen, ging es Nilabati jedoch wieder einiges besser. Sie lächelte wieder, was auch mich mit Leichtigkeit und Freude erfüllte. Die Operation war sehr aufwändig. Die Niere mit der Zyste musste entfernt werden und da die Blase so klein war wie ein 1 Franken – Stück, musste aus einem Stück des Darms eine Blase hergestellt werden. Wir konnten verhindern, dass Nilabati einen Schlauch mit einem Sack ein Lebenslang tragen muss. Und somit von der Gesellschaft und ihrer Mutter verachtet wird. Nilabati hat nun ein Loch in der Bauchdecke, in welchen sie einen kleinen Schlauch einführen kann, um den Urin abzulassen. Der Schlauch wird dann wieder rausgenommen. Von aussen ist also nur ein Loch ersichtlich, welches durch ein Pflaster abgedeckt werden kann. Wir haben uns für diese Art von Operation entschieden, weil es Nilabati mehr Lebensqualität geben wird und sie sich nicht vor anderen Menschen verstecken muss. Nilabati muss nun noch einige Wochen in Vellore bleiben. In dieser Zeit und auch danach, wird sie von uns eng betreut. Wir werden Nilabati einen Platz in einem Internat suchen, welches sich um die Jugendliche kompetent kümmern kann.
Ich bin enorm froh, dass wir es endlich geschafft haben. Ein Jahr lang hatte ich stets, entweder sehr präsent in meinen Gedanken oder es lauerte irgendwo im Hinterkopf, das Wissen, dass wenn wir es nicht schaffen, die Mutter von der Operation zu überzeugen, Nilabati in den nächsten Monaten oder zwei bis drei Jahre sterben wird. Das Nilabati nun die lebensnotwendige Operation erhalten hat, ist für uns alle ein riesen Erfolg, ein grosses Geschenk und eine sehr grosse Erleichterung.
Wir haben es geschafft! Nilabati darf leben!
Alles Liebe
Andrea