Oktober 2017

Ich sitze in einer Eingangshalle in einem kleinen Spital in Visakhapatnam in Indien. Diese Stadt befindet sich in Andhra Pradesh, im Nachbarstaat von Orissa. Hier ist der nächstbeste Ort um einen Spital zu finden, der Behandlungen steril und zuverlässig durchführt. Natürlich immer noch keinen Vergleich zu den Verhältnissen in der Schweiz, jedoch zufriedenstellend. Die Eingangshalle, in der ich mich momentan befinde, dient als Empfang und ebenso als Warteraum. Als Warteraum für Familie und Angehörige die sich um ihre hospitalisierten Familienmitglieder in diesem Spital kümmern. Denn das System in den Spitälern hier ist etwas anders. Die Essensversorgung, die Körperpflege und alles Weitere, was nicht zur direkten Behandlung gehört, wird von den Angehörigen übernommen. Wer keine hat, ist arm dran. Es gibt soziale Organisationen, die dies teils übernehmen, jedoch mehr schlecht als recht, was ich bis anhin mitgekriegt habe.

Viele der Menschen um mich herum scheinen aus ärmeren Familien zu stammen, ich schätze, teils auch aus den Dörfern. Für viele dieser Menschen wird eine Behandlung hier ihr Vermögen kosten, obwohl die teuersten Spitäler in dieser Stadt das Zehnfache für einen Tag verlangen. Ins staatliche Spital, welches teils kostenlose Behandlungen anbietet, geht wirklich nur, wer keine anderen Möglichkeiten hat, denn die Behandlungen sind sehr, sehr schlecht. Diese Tatsache ist der Grund, warum ich heute hier bin. Hier in diesem Spital, mit den Familienangehörigen von Lalita an meiner Seite, einer jungen Frau die hier in einem Bett dieses Spitals liegt… Beginnen wir doch von vorne der Geschichte…

Seit ein paar Wochen bin ich nun in Indien. Zu meinem Erstaunen erhielt ich die Bewilligung, um unsere Projektdörfer zu besuchen, dieses Mal mit wenig Aufwand. Mit der Bedingung jedoch, dass ich um 16 Uhr unser Projektgebiet verlasse und in der naheliegenden Stadt Rayagada übernachte (für Indien naheliegend (-: nur 1,5 Stunden Fahrt). Damit war ich einverstanden.

Den ersten Tag in den Dörfern wollte ich vor allem mit unseren Coaching-Kindern verbringen. Die hatten Ferien und somit Zeit für mich. Die anfangs zurückhaltenden, schüchternen Kinder, verwandelten sich in Windeseile in lachende, singende und aufgeweckte Mädchen und Jungs. Mit Gesang, Versen und dem Erkunden und Lernen der unterschiedlichen Sprachen Udria, Englisch und Schweizerdeutsch, verging die Zeit leider viel zu schnell. Der Anblick unserer Kinder hier im Coaching, welches täglich in der Hütte unseres Coaching-Lehrers Drinju stattfindet, brachte mir Tränen in die Augen. Wie muss es sein, in einer solch mittellosen Umgebung aufzuwachsen, umgeben von viel Gewalt und wenig Hoffnung auf eine sorgenfreie Zukunft. Im Vergleich zu unserem Kids Care in Nepal, in welchem die Armut ebenso ersichtlich ist, scheint hier jedoch in diesen abgeschiedenen Dörfern die Chance auf ein hoffnungsvolles Leben fast unmöglich.

Die Aussagen unserer Mitarbeiter brachten jedoch sogleich meinen Mut und meine Hoffnung wieder zurück. Die Kinder lieben das Coaching. Für unseren Lehrer Drinju ist es unmöglich, nur die 12 Kinder, die wir durch monatliche Sponsoren unterstützen und die auch Essen bekommen, zu unterrichten. Jeden Abend ist sein gesamtes Haus voller Kinder aus dem Dorf und Umgebung. Durchschnittlich sind 25 Kinder anwesend, um zusammen zu lernen. Alle wollen dabei sein, der kleine Raum, der dafür zur Verfügung steht, platzt aus allen Nähten. Die Kinder lieben diese Stunden. Die Möglichkeit zu lernen und die liebenswerte und geborgene Atmosphäre bringen die Kinder hierher, die zu Hause meist etwas anderes erleben. Ich war so gerührt über dieses Feedback der Kinder und der Mitarbeiter, dass ich erst gar nicht zu fragen wagte: «Und was ist zur Essenszeit?»

«Dann werden 13 Kinder weggeschickt, denn das Essen reicht nur für die 12 Kinder die ihr mit Sponsoren unterstützt» sagt Drinju…

Nach kurzer Diskussion war mir klar, das geht nicht. All diese Kinder sind bedürftig und sollen ein gemeinsames Abendessen bekommen. Somit entschieden wir kurzerhand, dass bevor ich überhaupt weitere Sponsoren gefunden habe, alle Kinder mitessen dürfen. Was ich dann erlebt habe, hätte ich gerne vor Ort mit Euch geteilt. Die Kinder waren so glücklich und fragten immer wieder nach: «bekommen wir nun jeden Tag Essen?» Diese Freude in den Gesichtern, ja nicht nur Freude, sondern endlose Dankbarkeit. Ein Junge kam zu mir, hielt meinen Arm fest, sah mir in die Augen und sagte mit ernster Miene: «Thank you!» Es war nicht einfach ein flüchtiger Dank, sondern ein sehr ernstgemeinter Dank eines Kindes, das die Chance kriegt, täglich lernen zu dürfen und Essen zu erhalten und dies mit viel Liebe und Führsorge.

Die Entwicklung des Coachings bringt uns in eine Richtung, die uns aufzeigt, dass wir wachsen dürfen, ja sogar wachsen müssen in diesem Bereich, um die Bedürfnisse der Kinder abzudecken. Nach dem intensiven Zusammensein mit den Kindern, begannen wir das Meeting mit den Eltern. Das Feedback von ihnen war unglaublich. Ich fragte zweimal nach, ob ich korrekt gehört habe. Es scheint so, dass alle unsere Coaching-Kinder viel bessere Noten haben. Die Kinder, die teils nicht in der Schule waren haben nun Spass daran und gehen hin. Die Eltern erklärten, dass die Kinder sich veränderten. Sie lernen gerne, sind ruhiger und zuverlässiger. Die Eltern baten um ein Internat für die Kinder. Sie möchten, dass die Veränderung dieser anhält und sie «abgeschottet» werden vom Dorfleben, das nicht gut für sie sei. Meine Antwort zu dieser Bitte war ein klares NEIN. Warum dieses Nein spontan und klar kam, erklärte ich den Eltern sofort. „Ein Internat können wir nur für einige Kinder eröffnen, die dann ein anderes Leben führen. Wenn sie zurückkommen ins Dorf, erleben sie die Gewalt und Hoffnungslosigkeit erneut, verlassen das Dorf und zurück bleiben die Kinder, die nicht ins Internat konnten und nun dem Beispiel vieler Dorfbewohner folgen: ungebildet, gewaltvoll und Alkohol trinkend. Was mir vorschwebt, ist eine Veränderung im Dorf selbst. Lasst uns ein sicheres, gewaltloses zu Hause für alle eure Kinder anstreben. In Zukunft irgendwann, können vielleicht alle Kinder aus dem gesamten Dorf am Coaching teilnehmen, so dass alle Spass am Lernen kriegen. Lasst uns gemeinsam darauf hinarbeiten, das Dorf zu verändern und nicht die Kinder abzuschotten.“ Eifriges Nicken bestätigte mir, dass dieser Gedanke grosse Zustimmung fand. Alle waren einverstanden. Es braucht Zeit, doch alle glauben, dass dies umsetzbar ist. Die Eltern haben nun die Aufgabe erhalten, bis zu meinem nächsten Besuch in ein paar Wochen, gemeinsam Strategien auszuarbeiten, wie sie die Gewalt im Dorf und in den einzelnen

Familien verringern können. Auf meinen nächsten Besuch bin ich echt gespannt. (-:

Gern würde ich nun ausführlich über den Erfolg unseres Frauenprojektes, die medizinische Versorgung in den Dörfern berichten, doch dies sprengt wieder einmal den Rahmen, den ich dieses Mal sowieso sprengen werde. (-:

Somit fahre ich weiter mit den wichtigsten Erzählungen…

Am nächsten Tag besuchte ich alle anderen unserer Sponsor-Kinder in ihrem Zuhause. Einige sind ebenso im Coaching integriert. Im Gespräch wurde diskutiert, welche Wirkung unsere Unterstützung zeigt und an welchen Punkten wir arbeiten müssen. Während diesen Besuchen wurden wir in eine Hütte gerufen. Es wurde uns mitgeteilt, dass in diesem Haus eine junge Frau liegt, die einen schweren Unfall hatte… Was ich da antraf überstieg meine Vorstellungskraft, welchem Leid ein Mensch ausgesetzt sein kann. Die junge Frau Lalita lag in einem schrecklichen Zustand in einem Feldbett, ohne Matratze, ihr verletzter Körper war zugedeckt mit schmutzigen Tüchern. Die Frau wurde vor zwei Monaten von einem Zug erfasst, als sie den Zuggleisen entlangging. In Indien gehen viele Menschen auf den Gleisen, ich weiss bis heute nicht genau warum. Ihr wurden vom Zug beide Beine komplett und einen Teil eines Arms abgetrennt. Lalita wurde in einem naheliegenden Spital… wie soll ich bloss sagen… aufgehoben? Denn von Behandlung kann man da nicht sprechen. Über Wochen wurde eine bedürftige, unhygienische Wundversorgung gemacht, die dann in der Hütte, welche ihr Zuhause ist, mit schmutzigen Tüchern weitergeführt wurde. Welchen grauenhaften Schmerzen und Leid die Frau in den zwei Monaten ausgesetzt war, kann man sich nicht vorstellen. Aus Loyalität zu dieser starken Frau, werde ich mich nun mit noch genaueren Beschreibungen, in welchem Zustand sie sich befand, zurückhalten und werde berichten was weiter geschah.

Nach diesem Besuch setzten wir sofort alle Hebel in Bewegung, um Lalita zu helfen, was jedoch nicht einfach war. Die Patientin und ebenso die Angehörigen waren von den Ereignissen im Spital, in welchem Lalita «behandelt» wurde, schon so traumatisiert, dass sie verständlicherweise jede Hilfe verweigerten. Lalitas Aussage war klar und deutlich: «Es reicht, nicht noch mehr Schmerzen, nicht noch mehr Leiden, ich möchte lieber sterben.»

Nach drei Tagen, konnten wir das Vertrauen der Familie und am Ende auch das von Lalita gewinnen. Alle haben zur Reise in ein gutes Spital und die notwendigen Operationen und kompetenten Behandlung zugesagt. Der Behördenmarathon den wir dann in Angriff nahmen, um alle Bewilligungen für den Transport und die Behandlung zu erhalten, war ermüdend und frustrierend. Ich fragte mich immer wieder, was nun im Vordergrund steht: Macht, Geld, das eigene Ego oder das Überleben eines Menschen. Doch am Ende haben wir es geschafft! Endlich konnten wir uns auf die sieben stündige Reise ins Amulya Krankenhaus in Visakhapatnam begeben, in welchem wir dann müde, doch hoffnungsvoll ankamen. Lalita, die während unserer Fahrt unvorstellbare Schmerzen aushalten musste, lächelte das erste Mal, als sie vom zuständigen Arzt vor Ort die ersehnte, angemessene Dosis Schmerzmittel verabreicht bekam – endlich keine Schmerzen mehr!

Nun sind seit unserer Ankunft zwei Tage vergangen. Vom ersten Moment des Klinikeintrittes bis jetzt bedanken sich Lolita und ihre drei Familienangehörigen immer wieder bei uns. Sie alle sind froh, nun hier zu sein, obwohl alle wissen, dass noch nichts überstanden ist. Unser Arzt, Dr. Sivaji (Orthopädischer Chirurg), der eigentlich in einer der teuersten Krankenhäuser arbeitet und in verschiedenen Krankenhäusern weltweit seine Erfahrungen gesammelt hat, wurde uns durch einen bekannten, vertrauensvollen Arzt vermittelt. Dieser hat mir schon in anderen, sehr schwierigen Situationen geholfen. Somit wissen wir, dass wir auf seine Vermittlungen vertrauen können. Dr. Sivaji versicherte uns, die Behandlung und Operation zu einem fairen Preis durchzuführen und vermittelte uns das Amulya Krankenhaus mit den Worten: «Ich arbeite in einem sehr teuren Krankenhaus. Geht in ein günstigeres und trotzdem kompetentes Spital, so dass ihr mit eurem Geld noch weiteren Menschen helfen könnt.» Er selbst kommt nun speziell für Lalitas Behandlung ins Amulya Krankenhaus. Er spricht Lalitas und ihrer Familie Sprache, da er nur 15 km von ihrem Dorf aufgewachsen ist, was der Familie weiteres Vertrauen und Hoffnung schenkt.

Lalita ist nun in diesem Krankenhaus, in welchem ich in der Eingangshalle sitze und schreibe. Sie ist noch lange nicht über den Berg. Die Wunden werden gut versorgt und die Entzündungen gingen bereits zurück. Doch Lalita ist schwach. Heute wurde ihr eine Blutinfusion verabreicht und morgen wird eine weitere Bluttransfusion nötig sein. Die junge Frau muss nun körperlich erst stärker werden, um ihre Chancen zu erhöhen, die Operation zu überleben. Wir alle hoffen, dass die notwendige Operation in sechs Tagen möglich ist. Diese ist für Lalita unumgänglich. Ohne Operation würde sie mit grösster Wahrscheinlichkeit sterben und wenn nicht, könnte sie sich niemals richtig bewegen. Doch auch die Operation birgt grosse Risiken. Zwei spezialisierte Chirurgen werden operieren. Der eine, ein Spezialist für Hauttransplantation und dann der orthopädische Chirurg, Dr. Sivaji. Lalitas Wunden müssen durch eine Hauttransplantation abgedeckt werden. Normalerweise wird bei einer Hauttransplantation die Haut vom Bein entnommen, doch in Lalitas Fall fehlt diese Haut. Nun muss die Haut vom Bauchbereich genutzt werden, was eine grosse Herausforderung darstellt, denn Lalita ist sehr dünn. Dies ist nur eine der Risikofaktoren der Operation und es kommen noch einige dazu.

Wir hoffen alle, dass die Operation so schnell wie möglich durchgeführt werden kann und dass alles gut gehen wird.

Bitte sendet uns all Eure positiven Gedanken, Hoffnung und Zuversicht ins Amulya Krankenhaus.

Danke für Eure Unterstützung!

Andrea