Februar 2018

 

Auf der Reise von unseren Projekten in Indien zu den Projekten in Nepal, mache ich einen Zwischenhalt in Kalkutta. Die Stadt, die die meisten kennen, durch die Projekte von Mutter Theresa. Hier in Kalkutta ist sozusagen unser Projekt «Menstruation ein Gesundheitsrisiko» geboren. Hier habe ich mich intensiv mit den Problemen der Frauen hierzulande, wie auch in Nepal, auseinandergesetzt. Ich durfte die Organisation Shomota besuchen und lernen, wie ich aus Baumwollstoff und Flanell Binden nähe. Es fand ein Austausch mit Megan, der Besitzerin der Organisation, über die Problematiken der Hygiene und Gesundheit während der Menstruation statt. Dieser Besuch zeigte mir auf, wie wichtig die Projektidee ist, gegen die unhygienischen und gesundheitsschädigenden Verhältnisse während der Menstruation anzukämpfen. Und so wurde das Projekt geboren. Bald schon werde ich Megan besuchen und mich über ihre Organisation und unser Projekt austauschen.

Ebenso besuche ich hier eine Freundin namens Richa, die seit längerem eines unserer Projekte grosszügig, finanziell unterstützt. Natürlich werde ich ihr ausführlich von unseren Projekten berichten, so dass sie weiss, wohin ihre finanzielle Unterstützung gelangt. Die Freundschaft zu Richa, ist durch die Bekanntschaft während eines Fluges entstanden. Wir haben so lange und intensiv am Flughafen miteinander gequatscht, dass wir beinahe unseren Flug verpasst hätten. Anscheinend wurden wir schon mehrmals ausgerufen, bis wir endlich reagierten und uns zum Boarding-Schalter aufmachten.

Und zu guter Letzt konnte ich ein Meeting organisieren, mit einer Frauenrechts Aktivistin, welche uns eventuell in unseren Frauenprojekten unterstützen kann.

… nun sitze ich mitten in Kalkutta an einem See, höre die Vögel zwitschern, das Plätschern des Wassers, den Lärm der Stadt und das Rufen von Menschen im Hintergrund, rieche den angenehmen Geruch von Wasser und lasse meine Finger über die Tasten meines Notebooks tanzen…

Noch vor einigen Tagen, war ich im Karuna Shanti College in Golantra, nahe Berhampur. In diesem College unterrichte ich die Gewaltfreie Kommunikation seit 5 Jahren. Erst nur den Studenten, mittlerweile einer Gruppe von Lehrern, die die Gewaltfreie Kommunikation dann an die Schüler weitergibt. Schon lange habe ich keine Schüler mehr unterrichtet und war somit umso glücklicher, nun wieder einmal mit 162 Jugendlichen mein Wissen über die Gewaltfreie Kommunikation zu teilen. Mädchen und Jungs werden im College während des Unterrichts und auch während der Freizeit strickte getrennt. Normalerweise unterstütze ich das gar nicht. Es ist ein schrecklicher Gedanke, dass die Jugendlichen nicht lernen, sich mit dem anderen Geschlecht auseinanderzusetzten und auszutauschen. Die Angst ist gross, dass sich die Teenager verlieben, was hier in Berhampur noch ein absolutes «No go» ist. Die jungen Männer und Frauen, werden von ihren Eltern verheiratet. Selbstausgewählte Liebesbeziehungen werden verpönt und meist nicht geduldet.

Für meinen Workshop hatte dieses Mal die Trennung jedoch einen Vorteil. Ich konnte mit den Mädchen über intime Dinge sprechen, wie die Menstruation, was mit den Jungs zusammen niemals möglich gewesen wäre. Ebenso sprach ich bei den Knaben die sich häufenden Vergewaltigungen an, um einen Austausch zu haben, was sie dagegen tun können, um sich am Ende nicht selbst in einem solchen Gewaltverbrechen wiederzufinden. Die jungen Erwachsenen beteiligten sich sehr aktiv am Unterricht. Die Gewaltfreie Kommunikation vermittelte ich anhand von Theorie und vielen Spielen, die das Gesagte verinnerlichten. Das abwechslungsreiche Lernen mit vielen Spielen und Bewegung wurde sehr geschätzt. Als ich mich dann von den Jugendlichen verabschiedete, füllten sich meine Augen mit Tränen. Ich bin jedes Mal enorm berührt, wenn solch junge Menschen ein ehrliches Interesse haben, gegen die Gewalt in ihrem Leben anzukämpfen. Fast alle leben in Familien, in welchen grosse Probleme und sehr viel Gewalt herrscht. Nun hoffe ich von ganzem Herzen, dass sie das Wissen, welches die Schüler vermittelt bekommen haben, in ihrem eigenen Leben nutzen können. Die Jugendlichen werden nun jeden zweiten Tag, von einer Gruppe von Lehrern aus dem College, für 45 Minuten mit Übungen in der Gewaltfreien Kommunikation unterrichtet.

Nun war das nicht die einzige Aufgabe während meines Aufenthaltes an unseren Projektorten in Indien. Die Reise in unsere Dörfer, um die Projekte vor Ort zu besuchen, war ein weiteres Ziel. Ich wollte nachsehen, wie es Lalita geht und all unsere anderen Kinder besuchen, wie auch für das Projekt der Binden-Produktion weitere Schritte vornehmen. Irgendwie kam mir die Ankunft bekannt vor. Wie damals, als wir Lalita (die junge Frau, die einen Zugunfall hatte) in ihrer Hütte vorgefunden haben, wurden wir auch dieses Mal zu einem Haus gerufen. Dieses Mal war es keine junge Frau, sondern ein Kind und dessen Eltern, die uns erwarteten. Geschockt vom Anblick des Jungen, musste ich erst mal ein paar Tränen verdrücken. Als ich ihn ansprach, wurde mir schnell klar, dass der Kleine erblindet ist. Ebenso konnte er nicht gehen. Es war ersichtlich, dass etwas mit seinem Gehirn nicht stimmte. Es war grösser als gewöhnlich. Die Eltern sagten, dass Arin, so heisst der Kleine, an einem Hydrozephalus (Wasserkopf) leidet. Abklärungen fanden vor 9 Monaten statt, als Arin plötzlich nicht mehr laufen konnte und erblindete. Jedoch wurden diese abgebrochen, weil die Eltern kein Geld mehr zur Verfügung hatten. Nun Arin so zu sehen, wie er dasitzt mit seinen unbeweglichen Beinen und sein leerer Blick in die Ferne starrend, tat in meinem Herzen weh. Uns war klar, wir mussten sofort handeln. Noch am selben Tag starteten wir unsere Reise in den Nachbarkanton, in ein zuverlässiges Spital. Kontakt zu einem guten Arzt hatten wir schon und die Zusage auf ein Spitalbett. Nach sieben Stunden Fahrt, welche der kleine Kämpfer gut meisterte, kamen wir an unserem Ziel an.

Kurz nach Eintritt wurde Arin gründlich durchgecheckt. Leider blieb dem Jungen nichts erspart. Wir wurden informiert, dass der Junge nicht nur an einer Wasseransammlung im Gehirn leidet, sondern er hatte einen ca. zehn cm grossen Hirntumor. Am nächsten Tag wurde die Operation durchgeführt. In der Nacht kamen die Angehörigen von Arin angereist, denn es war nicht klar, ob der Kleine überleben wird. Somit wollten wir, dass die Familie beisammen ist. Die Wartezeit der 4 stündigen Operation war unerträglich. Ich konnte mich auf nichts konzentrieren. Wenn es mir nun schon so ging, konnte ich nur erahnen, wie es den Eltern gehen musste, die darauf hofften und beteten, dass ihr Kind überlebt.

Dann die erlösende Information: Arin hatte die Operation gut überstanden. Leider konnte nicht der gesamte Tumor entfernt werden, jedoch der Shunt (ein kleiner Schlauch, welcher das Wasser im Hirn ableitet) wurde erfolgreich eingesetzt. Also im gesamten war die Operation ein Erfolg. Dies zeigte sich dann auch schon am nächsten Tag, als Arin wieder Kraft in den Beinen spürte. Das Training, um das Laufen wieder zu erlernen, wurde sofort begonnen. Leider war sein Blick weiterhin leer und dunkel.

Der Arzt machte uns in dieser Hinsicht auch keine Hoffnungen. Er wird erblindet bleiben, ausser es geschähe ein Wunder. Nun musste eine Biopsie des Tumors noch gründlich untersucht werden, um festzustellen, ob das Gewebe böse oder gutartig ist.

Für ein paar Tage musste der Junge noch im Krankenhaus zur Beobachtung bleiben. Am Tag vor der Abreise, wieder ins gewohnte Zuhause, wurde mir erklärt, wie Arin seine Medikamente einnehmen muss. Die Einnahme war so kompliziert, dass ebenso eine gelernte Krankenschwester erst ganz genau hinhören müsste, um alles zu verstehen. Ich wusste, dass ich diese Herausforderung von den Eltern nicht verlangen konnte. Beide Elternteile sind Analphabeten und sind sich ein Leben im Urwald gewohnt. In nur ein paar Stunden zu erlernen, wie all die Medikamente berechnet und abgemessen werden sollten, war unmöglich. Auch kamen mir Zweifel, wie die Eltern mit dem Kind die regelmässigen Gehtrainings meistern werden. Kurzerhand kontaktierte ich Mary und Cat, zwei Kinderärzte der Organisation «Love the One» aus Berhampur. Die Beiden sind mittlerweile Freunde von mir, stehen mir mit Rat und Tat bei und haben schon zwei unserer Kinder bei sich aufgenommen. Nun fragte ich die beiden, ob Arin und seine Familie für 2-3 Wochen in ihre Institution kommen könnten, um zu lernen, mit den Medikamenten klar zu kommen und Unterstützung für das Gehtraining zu kriegen. Als die Zusage der Beiden kam, war ich unendlich erleichtert.

Somit fuhren wir am nächsten Tag nicht zurück in die Dörfer, sondern nach Berhampur zu «Love the One». Es wurde klar, dass Arin noch weitere Abklärungen machen musste. Der Tumor war kein Krebs, also nicht bösartig, das war klar, jedoch wusste man nicht genau wie der Tumor entstanden ist. Die Vermutung war durch Tuberkulose, doch wurden keine Tuberkulose-Erreger im Blut gefunden. Wie der Krankheitsverlauf des Kleinen sein wird ist also absolut unklar. Ebenso waren die Eltern mir der Blindheit des Kleinen sehr gefordert. Glücklicherweise fühlte sich Arins Familie in der Institution «Love the One» gut aufgehoben und unterstützt. Die Familie hat sich gut und schnell eingelebt. So gut sogar, dass ich nach einigen Tagen eine lange Nachricht von Cat erhielt. Die Nachricht brachte mir und bringt mir gleich beim Erzählen wieder Tränen in die Augen. Cat erklärte mir, dass nun auch nach zwei Wochen die Situation mit Arin’s Gesundheitszustand sehr unklar ist. Dass es für Arin gut wäre, weiterhin Unterstützung zu kriegen. Die Frage von Cat war nun, ob Arin mit seiner Familie ins «Love the One» umziehen darf. Die Eltern würden eine Anstellung in der Institution erhalten und der Kleine wäre somit, was auch immer kommt, optimal versorgt… Sofort antwortete ich mit einem riesen Dankeschön. Das schönste Geschenk, das ich in diesen Tagen erhalten konnte. Arin und seine Familie haben ein Zuhause, in welchem die ganze Familie Unterstützung kriegt, auch finanziell abgesichert ist und Arin optimal betreut wird…einfach ein riesen Geschenk!

Herzliche Grüsse an Euch alle aus Kalkutta

Andrea