September 2018
Noch nie sass ich mitten in unseren Dörfern in Orissa um einen Newsletter zu schreiben. Normalerweise bin ich hier so beschäftigt, dass ich keine Zeit habe, um zu schreiben. Doch dieses Mal konnte ich mir viel Zeit für die Dörfer einplanen. Es ist enorm heiss, unter der Sonne ist es kaum auszuhalten. Deshalb flüchten sich die meisten Menschen in die Hütten, da es hier etwas kühler ist, ausser die Kinder, die spielen an der prallen Sonne und auch einige der Frauen waschen sich am Brunnen. Die Türen sind immer offen und hin und wieder sieht man eine Ziege oder Hühner an der Tür vorbeirennen. Auch im Haus hört man das scharren und Gackern der Hühner, die noch zu klein sind um draussen rumzurennen.
Anuma, die Gründerin von Hope is life India, sitzt mit dem gesamten Team zusammen, um die Arbeitsaufteilung zu besprechen und an die Zuverlässigkeit zu appellieren. Anuma hat sich in diesen Jahren, seit es Hope is life India gibt, enorm entwickelt. Anfangs war sie schüchtern und traute sich nicht recht sich vor dem Team zu behaupten. Nun sehe ich sie dasitzen, mit ihrem Sohn auf dem Schoss, der sich von einem kleinen Sturz ein paar Minuten zuvor erholt.
Ich selbst habe mich bewusst aus der Sitzung rausgenommen, um einfach zu beobachten, wie Anuma die Sitzungen jeweils durchführt.
Um die Dörfer zu besuchen, benötige ich immer eine polizeiliche Bewilligung. Es ist mir nicht erlaubt, in den Dörfern zu übernachten. Bis vor kurzem musste ich jeden Tag in die nächste grössere Stadt Rayagada, die 2 Reisestunden von unseren Projektdörfern entfernt liegt, zurück fahren um da die Nacht zu verbringen. Die Reise von 4 Stunden täglich war ermüdend. Nun hat sich unser Team bei der Polizei durchgesetzt und die Bewilligung erhalten, dass ich von nun an in dem naheliegenden grösseren Dorf Bisamkuttak übernachten darf, was mir viel Zeit und Reiserei erspart. Dies sind wunderbare Neuigkeiten die ich gerade sehr geniesse. Die Reise dauert nun mit dem Tucktuck nur noch 20 Minuten. In der Nähe unserer Projektdörfer sind immer wieder Maoisten aktiv, die auch nicht vor Ausländern halt machen, darum werden diese Massnahmen zu meiner Sicherheit getroffen.
Mein erster Besuch in einem unserer Projektdörfer namens Thuapadi war sehr ernüchternd. Nun arbeiten wir seit über 4 Jahren in den Dörfern. Die Frauen lieben den Empathie-Kreis, wo sie sich gegenseitig Empathie geben und führen diesen seit 4 Jahren wöchentlich durch. Sie sagen, sie erfahren durch den Kreis Kraft und Entspannung. Doch an diesem Tag, als ich bei den Frauen nachfrage, wie und ob sich die Gewalt im Dorf weiterhin reduziert habe, teilen mir die Frauen bestimmt mit: “Unsere Ehemänner sind unsere Könige, wenn sie uns schlagen möchten, dann dürfen sie dies auch tun. Wir könnten zurück schlagen oder uns scheiden lassen, dies gehört jedoch nicht zu einem guten Benehmen, deshalb tun wir es nicht.“ Traurig schaute ich mich um und jede einzelne Frau nickte zustimmend. Da meldete sich die Mutter unseres Teamleiters und sagte uns, dass sie nicht mehr von ihrem Mann geschlagen werde, seit sich ihr Sohn, der jüngere Bruder unseres Teamleiters, Lachindra, für sie eingesetzt hatte. Er wurde laut gegenüber seinem Vater und sagte ihm, dass er nicht mehr sehen möchte, dass er seine Mutter schlägt. Seit diesem Vorfall wurde die Mutter nie mehr von seinem Vater geschlagen.
Auch wenn ich echt frustriert war und meine Stimmung nicht einfach anzuheben war, war diese Information ein kleiner Hoffnungsschimmer. Sofort setzte ich mich mit dem Team zusammen und plante eine Sitzung mit allen Jugendlichen und jungen Männern des Dorfes. Diese waren nun meine Hoffnung. Vielleicht ist dies der Weg, hier endlich eine Veränderung zu erreichen. Vielleicht muss die neue Generation den Älteren aus dem Dorf aufzeigen, dass ein Leben ohne Gewalt lebenswerter ist.
Zwei Tage später sassen wir im Jugendclub vom Dorf. Es kamen einige der Jungs, interessiert, was wir zu sagen haben. Auch Lachindra war anwesend. Im Gespräch mit den Jugendlichen fragte ich nach, ob sie es mögen, wenn ihre Mutter geschlagen wird. Die Jungs sagten, es sei schmerzhaft für sie das zu sehen. Alle waren sich einig, dass sie dies ihren eigenen Kindern nicht antun möchten. Ihre Kinder sollen nicht diese Gewalt erleben, die ihnen wiederfährt. Ich sagte den Jugendlichen, dass sie nun die Chance haben, das Dorf zu verändern. Dass sie die neue Generation seien, die der Gewalt den Rücken zukehren können. Ich schaute mir jeden Einzelnen an, die Reaktion im Gesicht und ich war berührt, wie ernst die Jugendlichen dieses Thema zu nehmen scheinen. Ebenso erzählte ich, dass der Mann wohl der König sein darf, jedoch die Frau seine Königin sei. Das Modell, dass der Vater der mächtigste in der Familie ist, sei veraltet, die Jungen leben nun nach der Gleichberechtigung, auf derselben Augenhöhe. Ebenso habe ich den Jungs angeboten, dass wir sie unterstützen werden, wenn sie das möchten. Dass wir zum Beispiel im Dorf Gewaltfreie Kommunikation anbieten könnten. Auch wenn sie andere Unterstützung benötigen, können sie auf uns zukommen und wir werden schauen, was wir gemeinsam tun können. Es war ein beeindruckender Austausch. Unser Trumpf war eindeutig Lachindra. Wie mir schnell auffiel, ist er nicht nur selbstbewusst in seiner Familie und traut sich, seinen Vater zurechtzuweisen, sondern er hat ein grosses Ansehen unter seinen Altersgenossen. Auch sein grosser Bruder, unser Teamleiter, erzählte mir später, dass er eine Art Anführer sei von den jungen Leuten im Dorf und sehr viel Gutes bewirke.
Inspiriert und motiviert durch die Sitzung mit den jungen Männern fuhren wir in unser zweites Projektdorf namens Tadingipai, in dem wir planen, ein Kids Care aufzubauen. Den Dorfbewohnern habe ich vor ein paar Monaten mitgeteilt, dass ich versuche Geld für das Kindercenter zusammen zu kriegen und sie im Gegenzug die Gewalt im Dorf angehen und soweit reduzieren würden als möglich. Das Dorf war bekannt für die herrschende Gewalt. Ich kann mich an verschiedene unschöne Geschichten erinnern. Somit war ich echt gespannt was ich antreffen werde und hätte mir nie träumen lassen was mich wirklich vor Ort erwartete… Die Dorfbewohner teilten mir, nicht mal mit soviel Stolz, sondern mehr mit einer ernsten Miene mit, dass die Gewalt an Frauen seit einigen Monaten im Dorf komplett tabu ist. Es wird nicht mehr akzeptiert, dass jemand eine Frau schlägt und alle halten sich daran. Ich war so „paff“, dass ich diese Neuigkeit erst glaubte, als ich mich bei verlässlichen Quellen rückversicherte. Etwas beschämt erzählten sie mir, dass es zwar ab und zu noch Streitereien zwischen Nachbarn gäbe und auch die Kinder nicht vor Schlägen verschont werden. Doch es sind alle bereit dies ebenso anzugehen. Irgendwie kann ich es immer noch nicht so recht fassen wie kooperativ alle sind und auf ein gemeinsames, friedliches Leben hinarbeiten.
Nun war ich natürlich an der Reihe, um unseren Plan vom Kids Care zu erläutern. Da wir das Land um das Kids Care für 65 Kinder zu bauen von einem unserer Mitarbeiter gespendet bekommen, müssen wir zuerst all die Formalitäten abhandeln, was hier echt viel Zeit kostet. Geschätzte 2-3 Monate werden benötigt um alles Nötige in die Wege zu leiten. Für den Bau benötigen wir ca. 4 Monate, wahrscheinlich etwas länger, so wie ich nun die Zeitberechnungen hier vor Ort kenne. Die Dorfbewohner haben Erfahrung im Hausbau und somit werden sie das Kids Care aufbauen und einen üblichen Stundenlohn dafür erhalten. Für dieses Angebot sind alle enorm dankbar. Falls alles planmässig funktioniert, werden wir das Kids Care sicherlich Anfangs Mai 2019 eröffnen können… die Hoffnung stirbt zuletzt. (-:
In unserem dritten Projektdorf das Ghagudipadar heisst und das ich in meinem Bericht noch nicht erwähnt habe, erwarteten uns die Bewohner bei unserer Ankunft bereits. Sie haben vom Kids Care des Nachbardorfs gehört. Ganz unerwartet, haben sie uns ein Gebäude angeboten, das wir für ein Kids Care in ihrem Dorf nutzen könnten, für 32 Kinder. Ich konnte nicht anders, als einfach zu sagen. Denn es steht uns alles zur Verfügung was wir benötigen. Wir vereinbarten, dass wir dieses Kids Care ebenso Anfangs Mai 2019 eröffnen werden. Somit können wir das Team gleichzeitig weiterbilden, nötige Dinge für beide Kids Care’s einkaufen usw. Wir ermöglichen damit gleich nochmals 32 Kindern eine liebevolle, fürsorgliche Betreuung und eine ausgewogene Ernährung.
Das Haus, das uns zur Verfügung steht, um ein Kids Care zu eröffnen.
Nun benötigen wir Anfangs Mai für die zwei Kids Care‘s neue Gotti`s und Götti`s. Wenn Ihr Interesse habt, einen Teil dieses Projektes zu sein, eines der Kindercenter zu unterstützen und alle 6 Monate einen Bericht über den Verlauf und Neuigkeiten zu erhalten, melde Dich doch bei mir. Ohne die Unterstützung von vielen Paten wird unser Vorhaben nicht umsetzbar sein.
Hoffnungsvolle Grüsse
Andrea