Mai 2018

 

Ich sitze in einer kleinen Bambushütte direkt neben unserem Thomas Kids Care in Ghole Tole Nepal.

Das hier ist mein Zuhause, wenn ich in Nepal lebe. Die Hütte befindet sich etwas ausserhalb des Dorfkerns und hat einen atemberaubenden Ausblick in den Dschungel, der direkt nebenan liegt. Ich liebe es im Dschungel zu wandern, dies ist jedoch mit Vorsicht zu geniessen. Die meisten der Dschungelbewohner sind sehr friedlich wie die Dschungel-Hühner, verschiedene Vögel, Hirsche und Rehe sowie verschiedene Spinnen und Schlangenarten. Doch die Gefahren die lauern, sind ernst zu

nehmen. Nicht selten jagt ein Hund in dem Wald und kommt nie mehr zurück. Er hat sich nicht verlaufen, die Gewissheit ist bestimmt, dass ein Leopard oder vielleicht sogar ein Tiger das Tier verspeist hat. Die Dorfbewohner haben ihre Regeln, um sich zu schützen. Sie gehen nie alleine in den Dschungel, meist gehen sie mit lauter Musik um die wilden Tiere zu verscheuchen, nehmen keine Hunde mit sich mit, da dies die Leoparden und Tiger anzieht.

Seit mehr als 5 Jahren lebe ich nun den grössten Teil des Jahres in zwei Kulturen, die mir vorher gänzlich fremd waren. Täglich lerne ich dazu, kann einige gute Tipps in meinen Alltag integrieren und muss manchmal erst durch eigene Erfahrung verstehen, warum die Bewohner gewisse Dinge auf ihre Weise verrichten. Ich erfahre was es heisst, kein Wasser für den Haushalt zu haben, den Abwasch nicht machen zu können, das Klo nicht spülen und statt duschen gibt’s eine einfache «Katzenwäsche». Am Anfang fragte ich die Dorfbewohner, wie sie die Ratten in der Nacht loswerden, bis ich verstand, dass

es kein Rezept dafür gibt. Nun liege ich im Bett, Nacht für Nacht und höre zu, wie die Ratten an meinem Haus knabbern. Wenn ich von ihnen richtig genervt bin, klopfe ich mit einem Besen an die Wände und habe somit sicherlich für eine Weile meine Ruhe. Das sind zwei Beispiele von vielen. Früher währe all dies für mich unvorstellbar gewesen. Jedoch genau diese Erfahrungen am eigenen Leibe zu machen, ist für meine Arbeit enorm wichtig. Wenn Frauen nach der Arbeit über Schmerzen klagten, wusste ich wohl warum, weil ich sie jeden Tag die schweren Lasten tragen sah, jedoch wirklich verstanden habe

ich es, nachdem ich es selbst ausprobiert habe. Die Frauen tragen ihre Lasten mit einem Korb auf dem Rücken, der durch einen Gurt mit dem Kopf getragen wird. Als der Korb noch nicht mal zur Hälfte mit Material gefüllt war, musste ich stopp rufen, weil mein Nacken dem Gewicht nicht mehr standhalten konnte. Mit Müh und Not trug ich dann die Last zu dem Ort, wo sie hingeschleppt werden sollte. Mit schmerzendem Nacken musste ich schon nach der ersten Last aufgeben und hab mich dann für eine andere Arbeit entschieden um mitzuhelfen. Ebenso habe ich voller Freude und gegen den Rat vieler

Dorfbewohner, bei der Ernte einer einheimischen Frucht mitgeholfen. Für ca. 15 Minuten. Schnell brannte die klebrige Flüssigkeit der Frucht an meinen Fingern und die Haut wurde schwarz und rau. Noch einige Tage später spürte ich das Brennen und vor allem die raue Haut an den Händen. Eine weitere Aufgabe, die ich nicht als so schwierig betrachtete und mir ebenso davon abgeraten wurde, war Steine klopfen. Das heisst Steine für den Bau von Häusern in kleine Stücke hauen. Friedlich sass ich da mit zwei weiteren Frauen auf dem Boden und haute auf die Steine ein. Alles ging gut und ich

hatte Spass. Bis mir ein Stück Stein von der anderen Person an den Hinterkopf flog und ein weiterer direkt ins Gesicht. Meine Füsse hatte ich ahnungslos auf den zerstückelten Steinen, die kleinen Schnitte im Fuss sah ich erst später…

Diese täglichen Auseinandersetzungen mit dem Leben der Menschen, mit denen ich zusammenarbeiten darf, sind unumgänglich. Durch mein Interesse, ihr Leben zu verstehen und das miteinander leben ist es möglich, offen über Problematiken in den Familien und im Dorf zu diskutieren. Zum Beispiel spreche ich die Alkoholabhängigkeit in verschiedenen Familien immer wieder an. Suche nach verschiedenen individuellen Strategien, um an der Alkoholproblematik zu arbeiten. Das eindrücklichste Beispiel ist die Geschichte eines 37-jährigen Familien-Vaters, der über 16 Jahre der Alkoholsucht verfallen war. Die meisten im Dorf fürchteten sich vor ihm, da er impulsiv war. Ab und zu kam er betrunken ins Kids Care und wollte mithelfen. Dies ist jedoch ungünstig, da die Kinder im Kids Care genau vor diesen Situationen geschützt werden sollten. Wenn ich anwesend war, erklärte ich ihm warum er nicht im Kids Care sein kann und begleitete ihn Nachhause. Die Familie hat beim Erdbeben das Haus verloren und wohnt in einer winzigen Wellblech-Hütte. Seine Frau arbeitet bei uns in der

Binden-Produktion. Wenn ich sie sah, wirkte sie müde und ihre Gesichtszüge waren hart.

Eines Tages fragte ich den Mann, ob er früh morgens mit mir einen Spaziergang machen möchte. Er sagte sofort zu und so wurde unsere sogenannte Morgenrunde zur Routine. Zur Runde kam er mit wenigen Ausnahmen betrunken. Auch gab es eine Situation, dass er um 4 Uhr früh betrunken zu meiner Hütte kam und die Runde drehen wollte. Am nächsten Tag war er wütend auf mich, da ich die Tür zur Hütte nicht geöffnet habe. Jedoch war die Wut schnell vergessen und der tägliche Spaziergang wurde weitergeführt. Kurz darauf ernannte er mich zu seiner grossen Schwester, was ich mit Stolz noch bis heute bin. Mit der Zeit fiel mir auf, dass der Mann ruhiger wurde, seine Schwester erzählte mir, dass er sich verändert hat. Vorher wurde er schnell wütend und aufbrausend, hasste Kinder, nun aber begann er den Kontakt zu seinen Mitmenschen auf eine ruhige Art zu suchen und er wurde freundlich zu den Kindern im Dorf. Nach unserem halbjährlichen Medical Camp, welches wir das erste Mal nicht nur für Kinder und Frauen, sondern auch für Männer durchführten, bekam er vom Arzt die Bestätigung, dass seine Leber mit diesem Alkoholkonsum nicht mehr lange weiterfunktionieren werde. Dann geschah das unglaubliche. Der Mann, der bekannt war, als am stärksten abhängig vom gesamten Dorf, den viele fürchteten, entschied sich von einem Tag auf den anderen mit dem Alkohol trinken aufzuhören. Dies war nun vor ca. 5 Monaten. Seit her hat er keinen einzigen Schluck mehr getrunken. Manchmal sitzt er mitten im Geschehen am Abend in der Bar, wenn alle um ihn herum trinken, er trinkt nichts mehr. Mit den 10 Jahren Erfahrung in der Arbeit mit suchterkrankten Menschen in der

Schweiz, habe ich so etwas noch nie erlebt. Diese Geschichte erzähle ich mit grossem Respekt und Achtung vor ihm. Die Dorfbewohner sehen ihn nun mit Bewunderung an und er darf als gutes Beispiel vorangehen, im Kampf gegen die  Alkoholsucht.

Eine andere Familie viel mir auf, da die Mutter immer wieder abwesend war. Nach einem Gespräch mit Vater und Mutter wurde klar, dass der Vater oft betrunken ist und dann die Mutter schlägt. Sie schützte sich vor den Schlägen, indem sie das Haus verliess und in ihr Heimatdorf zu Mutter und Vater ging. Nach einem langen Gespräch über ihre Zukunft als Ehepaar und die Zukunft des Kindes, welches tägliche Gewalt an seiner Mutter mitkriegt, entschied sich der Vater den Alkoholkonsum soweit zu reduzieren, dass er nicht mehr gewalttätig wird. Nach 4 Wochen traf ich die Familie wieder für ein Gespräch in ihrem Zuhause. Das Ehepaar habe ich davor immer wieder angetroffen und mir viel sofort auf, dass die Mutter nicht nur viel entspannter wirkte, sondern über das ganze Gesicht strahlte. Ich fragte die Mutter nach dem Grund. Sie erzählte mir, dass ihr Mann sein Versprechen eingehalten hat und nur noch sehr wenig Alkohol trinkt. Sie erzählte, dass er sich seit unserem Gespräch über die Zukunft seines Sohnes Gedanken macht. Das Lachen in ihrem Gesicht erhellte erneut, als sie erzählte,

dass ihr Mann ihr wieder zeigt, dass er sie liebt. Ein weiteres Thema, dass mich enorm beschäftigt, ist die massive Gewalt gegenüber den Kindern. Die Brutalität der Schläge, ist den Dorfbewohnern nicht bewusst. Sie selbst sind genau so aufgewachsen.

Ich habe an Gewalt schon viel gesehen und wenn ich sage massive Gewalt, ist es nicht einfach eine «Ohrflätter». Da das ganze aus unserer Sicht schwer zu verstehen ist, möchte ich auch gar nicht ins Detail gehen. Jedoch gab es im Dorf schon mehrere Situationen in welchen ich schreiend der Mutter zu verstehen gab sofort mit der Gewalt aufzuhören. Was zu meiner Freude immer funktionierte. Zwei Mal bin ich losgerannt, um das Kind vor den Schlägen zu schützen. Die Mütter liessen dies zu, auch wenn wir vom gesamten Dorf beobachtet wurden. Nach diesen beiden Ereignissen, die kurz aufeinander folgten, habe ich ein Meeting mit den Müttern einberufen. Das Thema: Gewalt gegen Kinder. Die Mütter wussten nicht welches Thema wir besprechen werden als sie sich versammelten.

Trotzdem blieben fast alle, nachdem sie erfahren haben um was es geht. Als erstes fragte ich nach, wer von den Müttern Erfahrung hat im Geschlagen werden. Alle haben ihre Hand hochgehalten. Dann bat ich ihre Hände zu heben, wenn sie die Schläge mochten. Alle schauten mich irritiert an und einige lachten, natürlich hat niemand die Hand hochgehalten. Somit fragte ich nach: «Wenn wir alle Schläge nicht mögen, warum schlagen wir unsere Kinder, die uns am liebsten sind?» Niemand konnte darauf antworten. Nach Aufklärungen, welche körperlichen und psychischen Schäden ein Kind von Misshandlungen davontragen kann, suchten wir nach Strategien wie die Mütter sich in solchen Situationen, in welchen sie zuschlagen möchten, anders verhalten können. Die Frauen waren zu meiner Überraschung sehr offen und interessiert. Ich war berührt, welche Ideen sie vorschlugen. Wie zum Beispiel mit Singen zu beginnen oder das Kind zu kitzeln und Spässe zu machen. Durch die Anteilnahme an der Strategiesuche wurde mir ein weiteres Mal bewusst, dass die meisten Menschen das Leben ohne Gewalt meistern möchten. Die Mütter waren enorm dankbar und fragten nach dem nächsten Termin, bei welchem sie sich austauschen können, welche Strategien funktioniert haben und welche Herausforderungen das Ganze birgt. Dies taten wir dann auch. Auch wenn es noch ein weiter Weg ist, versuchen die Frauen die Strategien umzusetzen. Sie akzeptieren meine Rolle als «Kinder-Unterstützerin/Befürworterin» wie sie mich nannten und protestierten nicht als ich bekannt gab, dass

ich bei Gewalt an Kindern weiterhin eingreifen werde. Seither hat es keine Situation mehr gegeben in der ich eingreifen musste. Jedoch begegne ich manchmal der Situation, dass eine Mutter dem Kind eine Ohrfeige geben möchte und wenn sie mich dann sieht, ihre Hand sinken lässt. Auch wenn ganz klar ist, dass in den Familien noch viel Gewalt herrscht, ist die Motivation und das Interesse dies zu ändern gut ersichtlich. Das sich die Menschen um mich herum darauf einlassen und

mir so viel Vertrauen schenken, berührt mich sehr.

Wie immer wollte ich eigentlich noch viel mehr erzählen…

Was mir jedoch noch wichtig ist kurz zu erwähnen, für all die, die den letzten Newsletter gelesen haben: Arin, der kleine Kämpfer, der zwei Operationen wegen einem Hirntumor und Wasserablagerung hatte, musste sich einer weiteren Operation unterziehen lassen. Erleichtert darf ich Euch mitteilen, dass auch die Folgeoperation gut verlief und er gestern aus dem Spital austreten durfte.

Alles Liebe aus Ghole Tole

Andrea